Freitag, 12. Oktober 2007
Herbstgedichte von Rainer Maria Rilke (2)
Herbststimmung

Die Luft ist lau, wie in dem Sterbezimmer
an dessen Türe schon der Tod steht still;
auf nassen Dächern liegt einblasser Schimmer,
wie der der Kerze, die verlöschen will.

Das Regenwasser röchelte in den Rinnen,
der matte Wind hält Blätterleichenschau; —
und wie ein Schwarm gescheuchter Bekassinen
ziehn bang die kleinen Wolken durch das Grau.

Aus: Larenopfer, 1895

Herbst-Abend

Wind aus dem Mond,
plötzlich ergriffene Bäume
und ein tastend fallendes Blatt.
Durch die Zwischenräume
drängt die schwarze Landschaft der Fernen
in die unentschlossene Stadt.

Aus: Die Gedichte 1906 bis 1910
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Herbst

Oh hoher Baum des Schauns, der sich entlaubt:
nun heißts gewachsen sein dem Übermaße
von Himmel, das durch seine Äste bricht.
Erfüllt vom Sommer, schien er tief und dicht,
und beinah denkend, ein vertrautes Haupt.
Nun wird sein ganzes Innere zur Straße
des Himmels. Und der Himmel kennt uns nicht.

Aus: Die Gedichte 1922 bis 1926
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Sehen Sie dazu bitte auch unseren Beitrag vom 24. September, mit darin die beiden anderen Herbst-Gedichte von Rainer Maira Rilke.

All diese Gedichte sind selbstverständlich auch aufzufinden in:
Rainer Maria Rilke — Die Gedichte — Rilkes lyrisches Werk in einem Band; Limitierte Sonderausgabe; 896 Seiten, gebunden in rotem Leinen; Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig, 2006; ISBN 3-458-17333-1. Preis € 15,— (in der BRD).
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Abbildung: Rainer Maria Rilke, Porträt aus 1906 von Paula Modersohn-Becker (unvollendet), es befindet sich im Paula-Modersohn-Becker-Museum, Bremen. Sehen Sie zu Paula Modersohn-Becker auch unseren Beitrag von gestern 10. Oktober 2007.