Dienstag, 25. September 2007
Herbstgedichte von Rainer Maria Rilke (1)


Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnehren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge se zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben

* * * * *
Herbst

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
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Beide Gedichte habe ich der Sammlung von Rainer Maria Rilke (1875-1926) mit dem Titel Das Buch der Bilder — des ersten Buches zweiter Teil (1902/06) — entnommen. Selbstverständlich findet man diese beiden Gedichte auch in der Gesamtausgabe.
Rainer Maria Rilke: Die Gedichte, Insel Verlag, Frankfurt am Main 2006; ISBN 3-458-17333-1.

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Abbildingen:
1.
Rainer Maria Rilke, 1917, gezeichnet vom Maler, Grafiker und Lithographen Emil Orlik (1870-1932).
2. Emil Orlik, Selbstporträt aus den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts.