Donnerstag, 3. Januar 2008
. . . mit dieser Aura nobler Unschuld — Engel in der Lyrik des 20. Jahrhunderts in einem neuen Sammelbändchen
Himmelsboten, Dichterboten
In alten Zeiten wurden Engel als Boten der Götter — im Monotheismus dagegen des einen Gottes — betrachtet. Heutzutage gibt es mehr und mehr 'weltliche' Überlegungen zu Phänomenen, die man nicht auf Anhieb versteht, oder gar nicht kennt. Deshalb werden Engel — seien sei lieb und leidlich, zornig oder gar boshaft — von vielen eher als Boten der Dichter empfunden.
Hans Stempel und Martin Ripkens, Autoren von Kinder- und Jugenbüchern, sowie Berater eines Medienkonzerns, haben schon einige Anthologien zusammengestellt, die mit Erfolg gekrönt wurden. Im Falle der 'Himmelsboten' haben sie eine Anthologie in sieben Kapiteln zusammengestellt, die sich mit dem Thema in der Lyrik des zwanzigsten Jahrhundert befassen, zwar vor allem in der deutschen Literatur, jedoch auch mit einigen Gedichten, die aus anderen Sprachen ins Deutsche übertragen wurden. Die sieben verschiedenen Kapitel handeln von Engeln in dem Kontext zu resp. Zuflucht, Zorn, Abschied, Zärtlichkeit, Heiterkeit, Geschichte und von Engeln im Vorüberwehen.

Überraschung
Dass sich zwischen all den bekannten und noch bekannteren Dichtern auch Namen befinden, die nicht sofort ein ganzes Skala an Buchtiteln, Fakten und Fiktion hervorrufen, darf kaum Verwunderung wecken. Dass sich zwischen all den schriftstellerisch tätigen Leuten auch der international hoch eingeschätzte Pianist Alfred Brendel befindet, ist eine interessante und sehr angenehme Überraschung. Anscheinend hat dieser Musiker Ohren nach mehr als 'nur' Noten. Ihm gönnen wir das nur allzu gerne.
Das schön gestaltete Büchelchen enthält Beiträgen von 88 Dichtern von A bis W: Anna Achmatowa bis Gabriele Wohmann.


WENN DIE ENGEL KOMMEN

Wenn die Engel kommen
erzählen sie gerne Geschichten
etwas ungereimt freilich
Engel lieben Unsinn
informieren uns über Gott und die Schöpfung
alles frei erfunden
sehen aus wie Paradiesvögel
oder junge Propheten
oder schöne geflügelte Damen
flatterhaft
aber mit dieser Aura nobler Unschuld
selbst wenn sie uns bedrängen
uns mit ihren Flügeln zudecken
den Himmel öffnen
Müttern erscheinen sie als Putten
werde geherzt und entfleuchen wieder
Auf Denkmälern sitzend
putzen sie sich
wie die Schwalben

Alfred Brendel (geb. 1931)
Aus: Störendes Lachen während des Jaworts
Wien, München 1997 (Hanser Verlag)
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DER ENGEL IM WINTER

Ich aber traf ihn nachmittags im Wald.
Ein Wunder das durch Buchenräume ging,
So menschenfern, so stegend die Gestalt,
Daß blaue Luft im Fittich sich verfing;

Das Antlitz schien ein reines, stilles Leid,
Sehr sanft und silbrig rieselte das Haar,
In großen Falten schritt das weiße Kleid.
Er schaffte nichts, er sagte nichts; er war.

Und nichts an ihm, was schreckte, was verbot.
Und dennoch: keines Sterbens Weggenoß,
Daß meine Lippe, ob auch unbedroht,
Erstaunten Ruf, die Frage stumm verschloß.

Ein Blatt entwehte an sein Gürtelband,
Vergilbt und schon ein wenig krausgerollt;
Er fing und trug es in der schmalen Hand
Wie ein Geschenk aus Bronze und aus Gold.

Wer sah ihm zu? Das Eichhorn, rot am Ast,
Und Rehe, die das Buschwerk schnell verlor.
Und Erlen wanden schon im Abendglast
Wie schwarze Schlangen züngelnd sich empor.

Er regte kaum die dünne Blätterschicht
Mit weichem Fuß. Es hatte ewig Zeit.
Und zog: wohin? In Stadt und Dörfer nicht.
Er wallte außer aller Wirklichkeit.

Nicht unsre Not, nicht unser armes Glück,
Nur keusche uhe barg sein Schwingenpaar.
Ich folgte nach und stand und blieb zurück.
Er brachte nichts, er sagte nichts; er war.

Getrud Kolmar (1894-1943)
Aus: Gedichte

Der Engel neben dir — Gedichte zwischen Himmel und Erde Herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Stempel und Martin Ripkens. 176 Seiten, Paperback, Originalausgabe.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München, Dezember 2007;
ISBN 978-3-423-13625-9. € 8,50.

Abbildungen
1. Vorderseite der dtv-Ausgabe mit Gedichten über Engel.
2. Der Pianist, Essayist und Lyriker Alfred Brendel.
Das Foto wurde vor einigen Jahrzehnten gemacht.
3. Die Lyrikerin Gertrud Kolmar. Sie wurde vermutlich in Auschwitz umgebracht.
4. Die beiden Autoren der Anthologie, Hans Stempel und Martin Ripkens. Das Foto von Ursula Zeidler wurde der hinteren Umschlagklappe ihres Buches Das Glück ist kein Haustier — Eine Lebensreise (dtv 24227) entnommen.

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