Dienstag, 30. Dezember 2008
Friedrich Rückert (1788-1866) — Zeit und Ewigkeit



Zeit und Ewigkeit

Du fragst, was ist die Zeit? Und was die Ewigkeit?
Wo hebt sich Ewiges an und hebet auf die Zeit?
Die Zeit, sobald du sie aufhebst, ist aufgehoben,
wo dich das Ewige zu sich erhebt nach oben.
Die Zeit ist nicht, es ist allein die Ewigkeit,
die Ewigkeit allein ist ewig in der Zeit.
Sie ist das in der Zeit sich stets Gebärende,
als wahre Gegenwart die Zeit Durchwährende.
Wo die Vergangenheit und Zukunft ist geschwunden
in Gegenwart, da hast du Ewigkeit empfunden.
Wo du Vergangenheit und Zukunft hast empfunden
als Gegenwart, da ist die Ewigkeit gefunden.
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Uit: Die Weisheit des Brahmanen (1835-36)
Aufgenommen im Reclam-Bändchen Gedichte
herausgegeben von Walther Schmitz
Philipp Reclam jun., Stuttgart (1988)
RUB 3672; ISBN 978-3-15-003672-0

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Mittwoch, 12. November 2008
Weise Worte über menschliche Lebenspflichten in neun Vierzeilern vom junggestorbenen Dichter Ludwig Hölty


























Lebenspflichten

Rosen auf den Weg gestreut,
Und des Harms vergessen!
Eine kurze Spanne Zeit
Ward uns zugemessen.

Heute hüpft im Frühlingstanz
Noch der frohe Knabe;
Morgen weht der Totenkranz
Schon auf seinem Grabe.

Wonne führt die junge Braut
Heute zum Altare.
Eh' die Abendwolke taut,
Ruht sie auf der Bahre.

Ungewisser, kurzer Dau'r
Ist dies Erdenleben;
Und zur Freude, nicht zur Trau'r
Uns von Gott gegeben.

Gebet Harm und Grillenfang,
Gebet ihn den Winden;
Ruht bei frohem Becherklang
Unter grünen Linden!

Lasset keine Nachtigall
Unbehorcht verstummen,
Keine Bien' im Frühlingstal
Unbelauschet summen!

Fühlt, so lang es Gott erlaubt,
Kuß und süße Trauben,
Bis der Tod, der alles raubt,
Kommt, sie euch zu rauben.

Unter schlummerndes Gebein,
In die Gruft gesäet,
Fühlet nicht den Rosenhain
Der das Grab umwehet;

Fühlet nicht den Wonnenklang
Angestoßner Becher,
Nicht den frohen Rundgesang
Weingelehrter Zecher.

Ludwig Christoph Heinrich Hölty (1748-1776)
Uit: Gedichte (Leipzig, 1870)
Dit gedicht werd op muziek gezet door
Johann Friedrich Reichardt (1752-1814).

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Samstag, 8. November 2008
Friedrich Nietzsche (1844-1900) über den Herbst
Vereinsamt

Die Krähe schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein —
Wohl dem, der jetzt noch — Heimat hat!

Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt entflohn?

Die Welt — ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends halt.

Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.

Flieg Vogel, schnarr
Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! —
Versteck, du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!

Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
— bald wird es schnein,
Weh dem, der keine Heimat hat!












Der Herbst

Dies ist der Herbst: der bricht dir noch das Herz!
Fliege fort! fliege fort! —
Die Sonne schleicht zum Berg
Und steigt und steigt
Und ruht bei jedem Schritt.

Was ward die Welt so welk!
Auf mild gespannten Fäden spielt
Der Wind sein Lied.
Die Hoffnung floh —
Er klagt ihr nach.

Dies ist der Herbst: der — bricht dir noch das Herz!
Fliege fort! fliege fort!
O Frucht des Baums,
Du zitterst, fällst?
Welch ein Geheimnis lehrte dich
Die Nacht,
Daß eisger Schauder deine Wange,
Die Purpur-Wange deckt? —

Du schweigst, antwortest nicht?
Wer redet noch! — —

Dies ist der Herbst:
der — bricht dir noch das Herz!
Fliege fort! fliege fort!
»Ich bin nicht schön
— so spricht die Sternenblume —,
Doch Menschen lieb ich
Und Menschen tröst ich —

Sie sollen jetzt noch Blumen sehn,
Nach mir sich bücken
Ach! und mich brechen —
In ihrem Auge glänzet dann
Erinnerung auf.
Erinnerung an Schöneres als ich:
Ich seh's, ich seh's — und sterbe so.« —

Dies ist der Herbst: der — bricht dir noch das Herz!
Fliege fort! fliege fort!

Friedrich Nietzsche (1844-1900)
Aus: Gedichte

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Sonntag, 2. November 2008
Novalis: Geschichte der Poesie
Goethe ist jetzt der wahre Statthalter des poetischen Geistes auf Erden.

GESCHICHTE DER POESIE

Wie die Erde voller Schönheit blühte,
Sanftumschleiert von dem Rosenglanz
Ihrer Jugend, und noch bräutlich glühte
Aus der Weihumarmung, die den Kranz
Ihrer unenthüllten Kindheit raubte,
Jeder Wintersturm die Holde mied,
O! da säuselt durch die belaubte
Myrte Zephir sanft das erste Lied.

Eva lauschte im Gebüsch daneben
Und empfand mit Jugendphantasie
Dieser Töne jugendliches Leben
Und die neugeborne Harmonie.
Süßen Trieb empfand auch Philomele
Leise nachzubilden diesen Klang,
Mühelos entströmte ihrer Kehle
Sanft der göttliche Gesang.

Himmlische Begeistrug floß hernieder
In der Huldin reingestimmte Brust,
Und ihr Mund ergoß in Freudenlieder
Und in Dankgesängen ihre Lust,
Tiere, Vögel, selbst die Palmenäste
Neigten staunender zu ihr sich hin.
Alles schwieg, es buhlten nur die Weste
Froh um ihre Schülerin.

Göttin Dichtkunst kam in Rosenblüte
Hoher Jugend eingehüllt herab
Aus dem Äther, schön wie Aphrodite,
Du ihr Ozean das Dasein gab.
Goldne Wölkchen trugen sie hernieder,
Sie umfloß der reinste Balsamduft,
Kleine Genien ertönten Lieder
In der tränenlosen Luft.

NOVALIS
(d.i. Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg — 1772-1801)
Uit: Das lyrische Werk 1788-1793
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Sehen Sie zu Novalis bitte auch unseren Beitrag mit Aphorismen, am Samstag 1. November.
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Afbbildung: Novalis; Foto nach einer Marmorbüste von Fritz Schaper (1841-1919).

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Donnerstag, 30. Oktober 2008
Ernst Stadler (1883-1914) — Zwei Herbstgedichte (1)
WEINLESE

Die Stöcke hängen volgepakt mit Frucht. Geruch von Reben
Ist über Hügelwege ausgeschüttet. Bütten stauen sich auf Wagen.
Man sieht die Erntenden, wie sie, die Tücher vor der braunen Spätjahrssonne übern Kopf geschlagen,
Sich niederbücken und die Körbe an die strotzendgoldnen Euter heben.

Das Städtchen unten ist geschäftig. Scharen reihenweis gestellter,
Beteerter Fässer harten schon, die neue Last zu fassen.
Bald klingt Gestämpfe festlich über alle Gassen,
Bald trieft und schwillt von gelbem Safte jede Kelter.

















DIE ROSEN IM GARTEN

Die Rosen im Garten blühen zum zweiten Mal. Täglich schießen sie in dicken Bündeln
In die Sonne. Aber die schwelgerische Zartheit ist dahin,
Mit der ihr erstes Blühen sich im Hof des weiß und roten Sternenfeuers wiegte.
Sie springen gieriger, wie aus aufgerissene Adern strömend,
Über das heftig aufgeschwellte Fleisch der Blätter.
Ihr wildes Blühen ist wie Todesröcheln,
Das der vergehende Sommer in das ungewisse Licht des Herbstes trägt.

Ernst Stadler (1883-1914)
Aus Der Aufbruch
(Leipzig, 1914)

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Mittwoch, 29. Oktober 2008
Joseph von Eichendorff — Zwei Herbstgedichte
IM HERBST

Der Wald wird falb, die Blätter fallen,
Wie od und still der Raum!
Die Bächlein nur gehen durch die Buchenhallen
Lindrauschend wie im Traum,
Und Abendglocken schallen
Fern von des Waldes Saum.

Was wollt ihr mich so wild verlocken
In dieser Einsamkeit!
Wie in der Heimat klingen diese Glocken
Aus stiller Kinderzeit —
Ich wende mich erschrocken,
Ach, was mich liebt, ist weit!

So brecht hervor nur, alte Lieder.
Und brecht das Herz mir ab!
Noch einmal grüß ich aus der Ferne wieder
Was ich nur Liebes hab,
Mich aber zieht es nieder
Vor Wehmut wie ins Grab.















HERBSTWEH

So still in den Feldern allen,
Der Garten ist lange verblüht,
Man hort nur flüsternd die Blätter fallen,
Die Erde schläfert — ich bin so müd.

Es schüttelt die welken Blätter der Wald,
Mich friert, ich bin schon alt,
Bald komm der Winter und fällt der Schnee,
Bedeckt den Garten und mich und alles, alles Weh.

Joseph von Eichendorff (1788-1857)
Aus WERKE: Gedichte

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Montag, 27. Oktober 2008
Nikolaus Lenau (1802-1850) — Herbstgefühl
H E R B S T G E F Ü H L

Mürrisch braust der Eichenwald,
Aller Himmel ist umzogen.
Und dem Wandrer rauh und kalt
Kommt der Herbstwind nachgeflogen.

Wie der Wind zu Herbsteszeit
Mordend hinaust in den Wäldern,
Weht mir die Vergangenheit
Von des Glückes Stoppelfeldern.

An den Bäumen welk und matt,
schwebt des Laubes letzte Neige,
Niedertaumelt Blatt auf Blatt
Und verhüllt die Waldessteige;

Immer dichter fállt es, will
Mir den Reisepfad verderben,
Daß ich lieber halte still,
Gleich am Orte hier zu sterben.

Nikolaus Lenau (1802-1850)
Aus Sämtliche Werke

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Donnerstag, 16. Oktober 2008
Herbst und Oktober bei Theodor Storm
Herbstnachmittag

Halbschläfrig sitz ich im Lehnstuhl;
Vor der Tür auf dem Treppenstein
Schwatzen die Mädchen und schauen
In den hellen Sonnenschein.

Die Braunen, das sind meine Schwestern,
Die Blond' ist die Liebste mein.
Sie nähen und stricken und sticken,
Als sollte schon Hochzeit sein. —

Von fern das Kichern und Plaudern
Und um mich her die Ruh,
In den Lüften ein Schwirren und Summen —
Mir fallen die Augen zu.

Und als ich wieder erwache,
Ist alles still und tot,
Und durch die Fensterscheiben
Schimmert das Abendbrot.

Die Mädchen sitzen wieder
Am Tisch im stummen Verein;
Und legen zur Seite die Nadeln
Vor dem blendenden Abendschein.

Theodor Storm (1817-1888)
Uit: Gedichte.
In: Sämtliche Werke

* * * * * * * * * *

Oktoberlied

Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja vergolden.

Und geht es draußen noch so toll,
Unchristlich oder christlich,
Ist doch die Welt, die schöne Welt,
So gänzlich unverwüstlich!

Und wimmert auch einmal das Herz, —
Stoß an, und laß es klingen!
Wir wissen's doch, ein rechtes Herz
Ist gar nicht umzubringen.

Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja vergolden.

Wohl ist es Herbst; doch warte nur,
Doch warte nur ein Weilchen!
Der Frühling kommt, der Himmel lacht,
Es steht die Welt im Veilchen.

Die blauen Tage brechen an;
Und ehe sie verfließen,
Wir wollen sie, mein wackrer Freund,
Genießen, ja genießen!

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Abbildung Theodor Storm in 1886.

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Samstag, 4. Oktober 2008
Johann Wolfgang von Goethe's Gedicht Im Herbst 1775 — hier mit seiner Handschrift in Faksimile

Viele Gedichte hat der damals 26-jährige Goethe im Jahre 1775 nicht geschrieben. In der erstmals 1875 erschienene 6-bändige Ausgabe Der Junge Goethe — die ich vor zwei Monaten von einem Buchhändler geschenkt bekommen habe in der Neuen Ausgabe von 1910/11, da er in den Niederlanden schon seit längerem keine Kunden mehr hat für deutschsprachige Literatur die im Fraktur gedruckt worden ist — kommen in jenem Jahr relativ wenig Gedichte vor.
Zu dieser Neuausgabe wurde damals im Vorwort geschrieben dass ein Menschenalter zwischen 1875 und 1910 liege. Schon daran erkennt man dass das Alltagsleben sich seitdem maßgeblich verändert hat.
Dieses Faksimile ist auf anderem Papier gedruckt und, ohne Seitenzahl, der gedruckten Version im laufenden Text vorangestellt.


IM HERST 1775

Fetter grüne du Laub
Das Rebengeländer
Hier mein Fenster herauf.
Gedrängter quillet
Zwillingsbeeren, und reiset
Schneller und glänzend voller.
Euch brütet der Mutter Sonne
Scheideblick, euch umsäuselt
Des holden Himmels
Fruchtende Fülle.
Euch fühlet des Monds
Freundlicher Zauberhauch
Und euch bethauen, Ach!
Aus diesen Augen
Der ewig bestehende Liebe
Vollschwellende Trähnen.

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Samstag, 27. September 2008
Noch ein Gedicht in der Handschrift von Ludwig Uhland — Einkehr (1811)


E I N K E H R

Bei einem Wirthe, wundermild,
Da war ich jüngst zu Gaste;
Ein goldner Apfel war sein Schild
An einem langen Aste.

Es war der gute Apfelbaum,
Bei dem ich eingekehret;
Mit süßer Kost und frischem Schaum
Hat er mich wohl genähret.

Es kamen in sein grünes Haus
Viel leichtbeschwingte Gäste;
Sie sprangen frei und hielten Schmaus
Und sangen auf das beste.

Ich fand ein Bett zu süßer Ruh
Auf weichen grünen Matten;
Der Wirth, er deckte selbst mich zu
Mit seinem kühlen Schatten.

Nun fragt' ich nach der Schuldigkeit,
Da schüttelt er den Wipfel.
Gesegnet sei er allezeit
Von der Wurzel bis zum Gipfel!

Aus: Wanderlieder (№ 7)
LUDWIG UHLAND (1787-1862)

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Abbildungen
1. Gedichthandschrift Uhlands, 1811.
2. Ludwig Uhland. Ölgemälde von Christoph Friedrich Dörr. Um 1810.
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Bitte sehen Sie auch unseren vorigen Beitrag vom 17. August, mit einem Gedicht in Uhlands Handschrift und dazu eine kurze Beschreibung seines Lebens.
http://kulturtempel.blogger.de/stories/1200053/

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