Samstag, 29. Dezember 2007
Aus Rainer Maria Rilke's 'Buch der Bilder' (1902/1906)

MENSCHEN BEI NACHT

Die Nächte sind nicht für die Menge gemacht.
Von deinem Nachbar trennt dich die Nacht,
und du sollst ihn nicht suchen trotzdem.
Und machst du nachts deine Stube licht,
um Menschen zu schauen ins Angesicht,
so mußt du bedenken: wem.

Die Menschen sind furchtbar vom Licht entstellt,
das von ihren Gesichtern träuft,
und haben sie nachts sich zusammengesellt,
so schaust du eine wankende Welt
durcheinandergehäuft.
Auf ihren Stirnen hat gelber Schein
alle Gedanken verdrängt,
in ihren Blicken flackert der Wein,
an ihren Händen hängt
die schwere Gebärde, mit der sie sich
bei ihren Gesprächen verstehn;
und dabei sagen sie: Ich und Ich
und meinen: Irgendwen.


DER NACHBAR

Fremde Geige, gehst du mir nach?
In wieviel fremden Städten schon sprach
deine einsame Nacht zu meiner?
Spielen dich hunderte? Spielt dich einer?

Giebt es in allen großen Städten
solche, die sich ohne dich
schon in den Flüssen verloren hätten?
Und warum trifft es immer mich?

Warum bin ich immer der Nachbar derer,
die dich bange zwingen zu singen
und zu sagen: Das Leben ist schwerer
als die Schwere von allen Dingen.
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Weitere Gedichte von Rilke wurden, passend zur Jahreszeit Herbst, schon auf dieser Kulturwebseite aufgenommen. Dazu lese man:
http://kulturtempel.blogger.de/stories/919302/#946560
sowie:
http://kulturtempel.blogger.de/stories/935800/
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Abbildungen
1. Rainer Maria Rilke in seinem Arbeitszimmer in Westerwede, 1901.
2. Titelmotiv (nach einer Zeichnung von Heinrich Vogeler) auf dem Insel-Bändchen Das Buch der Bilder.