Donnerstag, 30. Oktober 2008
Ernst Stadler (1883-1914) — Zwei Herbstgedichte (1)
WEINLESE

Die Stöcke hängen volgepakt mit Frucht. Geruch von Reben
Ist über Hügelwege ausgeschüttet. Bütten stauen sich auf Wagen.
Man sieht die Erntenden, wie sie, die Tücher vor der braunen Spätjahrssonne übern Kopf geschlagen,
Sich niederbücken und die Körbe an die strotzendgoldnen Euter heben.

Das Städtchen unten ist geschäftig. Scharen reihenweis gestellter,
Beteerter Fässer harten schon, die neue Last zu fassen.
Bald klingt Gestämpfe festlich über alle Gassen,
Bald trieft und schwillt von gelbem Safte jede Kelter.

















DIE ROSEN IM GARTEN

Die Rosen im Garten blühen zum zweiten Mal. Täglich schießen sie in dicken Bündeln
In die Sonne. Aber die schwelgerische Zartheit ist dahin,
Mit der ihr erstes Blühen sich im Hof des weiß und roten Sternenfeuers wiegte.
Sie springen gieriger, wie aus aufgerissene Adern strömend,
Über das heftig aufgeschwellte Fleisch der Blätter.
Ihr wildes Blühen ist wie Todesröcheln,
Das der vergehende Sommer in das ungewisse Licht des Herbstes trägt.

Ernst Stadler (1883-1914)
Aus Der Aufbruch
(Leipzig, 1914)