Sonntag, 3. August 2008
Zeit ist wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit, und andere 'geistreiche Sinn- und Schlußreime' von Angelus Silesius

Ich weiß nicht, was ich bin, ich bin nicht, was ich weiß:
Ein Ding und nicht ein Ding: ein Tüpfchen und ein Kreis.

Mensch, wo du deinen Geist schwingst über Ort und Zeit,
So kannst du jeden Blick sein in der Ewigkeit.

Mensch, wo du noch was bist, was weißt, was liebst und hast,
So bist du, glaube mir, nicht ledig deiner Last.

Tod ist ein selig Ding: je kräftiger er ist,
Je herrlicher daraus das Leben wird erkiest.*
[* — hier: erkoren]

Indem der weise Mann zu tausendmalen stirbt,
Er durch die Wahrheit selbst um tausend Leben wirbt.

Ich lieb ein einzig Ding und weiß nicht, was es ist:
Und weil ich es nicht weiß, drum hab ich es erkiest.

Wer nichts begehrt, nichts hat, nichts weiß, nichts liebt, nichts will,
Der hat, der weiß, begehrt und liebt noch immer viel.

Zeit ist wie Ewigkeit un Ewigkeit wie Zeit,
So du nur selber nicht machst einen Unterscheid.

Was martest du das Erz; der Eckstein ist's allein,
Indem Gesundheit, Gold und alle Künste sein.

Wer in der Sonnen ist, dem mangelt nicht das Licht,
Das dem, der außer ihr verirret geht, gebricht.

Ein Auge, das sich nie der Lust des Sehns entbricht,
Wird endlich gar verblend't und sieht sich selbsten nicht.

Das Wort, das dich und mich und alle Dinge trägt,
Wird wiederum von mir getragen und gehegt.

Der Mensch ist alle Ding: ist's, daß ihm eins gebricht,
So kennet er fürwahr sein Reichtum selber nicht.

Du sprichst, m Firmament sei eine Sonn allein:
Ich aber sage, daß viel tausend Sonnen sein.

Mensch, wo du ledig bist, das Wasser quillt aus dir
Sowohl als aus dem Brunn der Ewigkeit herfür.

Die Weisheit find't sich gern wo hre Kinder sind.
Warum? O Wunderding: sie selber ist ein Kind.

Die Weisheit schauet sich in ihrem Spiegel an.
Wer ist's? Sie selber, und wer Weisheit werden kann.

Man red't von Zeit und Ort, von Nun und Ewigkeit:
Was ist denn Zeit und Ort und Nun und Ewigkeit?

Ich ward das, was ich war, und bin, was ich gewesen,
Und werd es ewig sein, wenn Leib und Seel genesen.

Der Ort und 's Wort ist eins, und wäre nicht der Ort,
Bei ew'ger Ewigkeit, es wäre nicht das Wort.

Abbildungen
1. Angelus Silesius hieß mit bürgerlichem Namen Johannes Scheffler (1624-1677).
2. Vorderseite der Ausgabe, 1960 erschienen in der Reihe Goldmanns Gelbe Taschenbücher mit damals noch einem Leinenrücken. Damals hat die Ausgabe 2 Mark gekostet, eine Liebhaberausgabe in Leinen vom selben Verlag hat DM 8,50 gekostet.
Die Taschen-Ausgabe fand ich 1994 in einem niederländischen 'Kreislaufladen' zwischen vielen hunderten schlimm-billigen Taschenbüchern sowie 'Altpapier' für den Preis von zehn (NL-Gulden)Cent. Im vergangenen Jahr fand ich bei den abgeschriebenen Büchern eines Antiquariats in meiner Stadt die gebundene, noch völlig neue Ausgabe für einen halben Euro.

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